Systemisches Coaching im Gespräch: Mehr Führungsstärke durch Verletzlichkeit, Selbstreflexion und Kommunikation

Systemisches Coaching im Gespräch - Mehr Führungsstärke durch Verletzlichkeit, Selbstreflexion und Kommunikation 3x2
In diesem Interview haben wir das Vergnügen, mit Sabina Berthold, der Systemischen Coach, Organisationsentwicklerin und Mediatorin, zu sprechen.
 
Sabina begleitet Führungskräfte und Organisationen in den Bereichen ganzheitliche Führung, Unternehmenskultur sowie wertschätzende und wirksame Zusammenarbeit.
 
Ihre Arbeit ist geprägt von einem ganzheitlichen Ansatz, der die Menschen im Kontext der Umgebung, in der sie arbeiten, in den Fokus stellt.
 
Sabina legt großen Wert auf Leichtigkeit, Vertrauen, Verletzlichkeit und individuelle, sofort umsetzbare Lösungen.
 
Sie integriert auch gerne Humor und Authentizität in ihre Arbeit.
 
In unserem Interview spricht sie über Führung und wie diese durch Verletzlichkeit, Selbstreflexion und Kommunikation gestärkt werden kann.
 
Claudio Marseglia: Ich freue mich, Dich heute interviewen zu dürfen. Fangen wir gleich damit an, was Du machst. Könntest Du bitte erläutern, wie systemisches Coaching dazu beitragen kann, Führungskräfte und Teams in Unternehmen zu unterstützen und zu verbessern?
 
Sabina Berthold: Hallo Claudio, danke Dir für diesen wunderbaren Raum. 
 
In meinen Augen kann (fast) jedes Coaching dazu beitragen Führungskräfte und Teams in Organisationen zu unterstützen, da es idealerweise eine Reflexionsfläche für effektives und verhinderndes Verhalten bietet.
 
Das systemische Coaching hat die Schönheit, dass es von keiner festen Realität ausgeht, Multiperspektivität bietet und lösungsorientiert aus dem Inneren ist.
 
Das klingt jetzt sehr fachlich, einfach ausgedrückt bedeutet das: Wir sehen uns die aktuellen Herausforderungen durch Deine Augen an und stellen dieser Sicht viele andere Blickwinkel zur Seite. Allein das löst oft schon befreiende „Aha-Momente“ aus. Diese nutzen wir im nächsten Schritt dazu funktionierende Lösungsansätze zu finden.
 
Dabei haben wir stets im Blick, welche Auswirkungen diese ins System (Team/ Organisation) haben können – und wo wir selbst eventuell gar keinen Einfluss haben. 
 
Damit bekommen Führungskräfte und Teams viele Geschenke: 
 
  • Bestätigung des eigenen Erlebens
  • Neue Perspektiven
  • Wirksame Lösungsansätze, die mit eigener Kraft erreicht werden können
  • Möglichkeiten und Grenzen vom eigenen Verhalten im eigenen Umfeld
CM: Sehr spannend. Gehen wir auf das folgende praktische Thema ein: Wie sieht die morgendliche Routine einer typischen Führungskraft aus?
 
SB: Diese Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten, da sich in den letzten drei Jahren unsere Routinen durch virtuelle Arbeit, Jobsharing etc. stark verändert haben. 
 
Wenn ich jedoch das Erleben meiner Coachees zusammenfasse, dann folgt meist schon von zu Hause aus der erste Blick in die E-Mails, bevor entschieden wird, ob von zu Hause oder vom Büro gearbeitet wird. Die Meeting-Last ist seit Corona eher stärker geworden und so fängt am Morgen häufig schon das Rennen durch den Kalender an. 
 
Eine bewusste Zeit zum Einchecken – ob mit sich selbst oder dem eigenen Team- nehmen sich leider die Wenigsten. Dabei wäre das eine optimale Routine am Morgen.
 
Hier können wichtige Fragen gestellt werden, wie:
 
  • Wie geht es mir heute?
  • Was brauche ich, damit ich heute gut arbeiten kann?
  • Welche Prioritäten habe ich heute
  • Was ist heute nicht verhandelbar?
CM: Das ist sehr interessant. Ich habe das Gefühl, dass es wichtig ist, dafür in sich zu gehen. Welche Methoden und Techniken könnten dazu beitragen, dass man besser in Einklang mit der eigenen Intuition kommt und die innere Stimme besser wahrnimmt?
 
SB: Jetzt hast Du zwei große Begriffe benutzt, die, gerade in Business Kreisen, noch Stirnrunzeln oder ein Schmunzeln hervorrufen.
 
Im Prinzip sind jedoch sowohl unsere Intuition, wie auch unsere innere Stimme, feste Begleiter, die wir unbedingt zu besten Freunden:innen machen sollten. Denn im Endeffekt weiß ich selbst am besten, was ich wann brauche (Bedürfnisse) und wie es mir in einer Situation geht (Intuition/ Gefühle). Nur haben wir bisher gelernt zu funktionieren und nicht auf uns selbst zu hören. 
 
Einfach gesagt, haben wir sowohl das Wissen wie auch die Tools, um uns selbst zu sagen, was wir wann und wie brauchen und was uns gerade fehlt. 
 
Schöne Techniken hierzu sind Achtsamkeit, Embodiment und Breath Work. Diese können gezielt in z.B. Stresssituationen genutzt werden oder (idealerweise) regelmäßig in Check-Ins mit mir selbst und/oder mit meinem Team.
 
CM: Was genau bedeutet Embodiment und wie kann diese Praxis dazu genutzt werden, das Bewusstsein und die Verbindung zum Körper zu verbessern?
 
SB: Embodiment kannst Du frei mit „reinfühlen“ übersetzten. Unser Körper reagiert unwillkürlich, d.h. er gibt uns sofort Feedback darüber, wie es uns gerade geht und greift dabei auf gut abgespeicherte und bewährte Informationen aus unserem Mittelhirn und emotionalen Zentrum zu. 
 
So zittern uns z.B. die Hände, unser Atem wird schneller oder wir haben einen „grummeligen Bauch“, wenn wir aufgeregt sind. 
 
Diese Reaktionen entscheiden wir nicht bewusst, doch sie sind ein sehr wichtiges Feedback für uns. Je mehr ich auf diese Signale achte, desto besser fange ich an mich zu verstehen.
 
Im Coaching machen wir das z.B. durch bewusste Fragen, wie sich bestimmte Körperregionen in einem Konflikt anfühlen. Oder, wie sich bestimmte Lösungsansätze anfühlen. Manchmal nehme ich auch Stühle oder Zettel als Symbol zur Hilfe. Unser Körper reagiert sofort, wenn z.B. eine Problemlösung, die auf dem Zettel steht für uns nicht stimmig ist.
 
Mit der Zeit merken wir so nicht nur viel schneller, wie es uns geht und was sie ggf. ändern möchten, sondern lernen zudem bestimmte Trigger-Situationen kennen und wissen zukünftig, wie wir in diesen Situationen souverän bleiben können. 
 
Natürlich können wir eine unwillkürliche Reaktion auch durch viel Achtsamkeit mit uns selbst nicht steuern, doch wir bemerken sehr viel schneller unangenehme Situationen und können lernen unsere Bedürfnisse zu erkennen. Somit gewinnen wir Klarheit, Entspannung und weniger Stress. Agieren, anstatt reagieren. 
 
CM: Das sind wertvolle Einblicke. Agieren ist ein wichtiges Thema. Das bringt mich zur nächsten Frage: Wie kann die Förderung von Verletzlichkeit und Offenheit im Führungsteam dazu beitragen, die Effektivität der Führungskräfte zu verbessern?
 
SB: In dem Moment, in dem Führungskräfte offen kommunizieren und sich ganzheitlich zeigen, entsteht ein Raum, in dem wir uns als Menschen begegnen können.
 
Wir sprechen nicht mehr aus unseren fachlichen Rollen heraus, sondern von Mensch zu Mensch. Dadurch wird der Druck „funktionieren zu müssen“ weniger und wir erleben gemeinsame Lösungsräume. 
 
Für Viele hört es sich im ersten Moment sehr groß und gefährlich an, wenn wir davon sprechen, dass sich Führungskräfte verletzlich zeigen.
 
Bisher haben wir eher gelernt „fachlich zu diskutieren“ und bloß keine Gefühle zu zeigen. Doch so etwas wie eine „fachliche Diskussion“ gibt es in meinen Augen nicht.
 
Wir können über die Sache reden, doch wir sprechen immer als Menschen miteinander. In dem Moment, in dem sich eine Führungskraft entscheidet, nicht mehr die omnipotente Kompetenzgottheit zu sein, sondern Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse äußert, bekommen alle anderen die Möglichkeit das gleiche zu tun.
 
Wir fangen an die bestmögliche Lösung aus allen Perspektiven und Bedürfnissen zu verhandeln.
 
Das schafft Gemeinschaft, Vertrauen, Wertschätzung und dadurch auch bessere Lösungen und eine höhere Wirksamkeit und Produktivität. Kurz gesagt: bessere Ergebnisse in einem schöneren Miteinander.
 
CM: Ein schönes Miteinander ist mir selbst auch sehr wichtig. Gibt es bewährte Methoden oder Techniken, die Führungskräfte anwenden können, um Konflikte zwischen Mitarbeitern produktiv zu lösen und ein harmonisches Arbeitsumfeld zu schaffen?
 
SB: Die bewährteste Methode hierfür ist für mich eine wertschätzende Kommunikation. Das hört sich so selbstverständlich an, dass es die meisten absolut unterschätzen. Konkrete Tools sind zum Beispiel:
 
  1. Trennung von Beobachtung von Bewertung (Würde eine Kamera die von mir erlebte Situation so aufzeichnen, oder habe ich diese bereits interpretiert?)
  2. Speaking out loud (“Don’t assume- ask/speak.” Ich gehe weder davon aus, dass ich dich verstanden habe, noch dass du mich verstehst. Ich spreche meine Gedanken und Fragen offen aus.)
  3. Positives Zuhören (Ich gebe Dir Zeit zu sprechen, frage interessiert nach, bestärke Dich und fasse ggf. noch einmal zusammen, was ich gehört/ verstanden habe.)
  4. Multiperspektivität (Ich verteidige nicht meine Meinung, sondern lade “Aha-Momente“ ein, á la „Spannend, so kann man es auch sehen“.)
  5. Kommunikation von Bedürfnissen (Ich kann Dir klar mitteilen, was ich mir in der aktuellen Situation von Dir wünsche.)
Über jede einzelne Methode könnten wir jetzt ein eigenes Interview führen.
 
CM: Das kann ich mir gut vorstellen. Neben der Lösung von Konflikten sehe ich im Zeitmanagement eine große Herausforderung für das Leadership-Team. Wie können Führungskräfte sicherstellen, dass sie ihre Zeit und Ressourcen optimal nutzen, um ihre Ziele zu erreichen? Welche Strategien können sie anwenden, um Prioritäten zu setzen und sicherzustellen, dass Meetings und Aktivitäten den geschäftlichen Zielen entsprechen? Wie können sie sicherstellen, dass ihre Entscheidungen auf fundierten Daten und Analysen basieren?
 
SB: Meine ganz persönliche Meinung: gar nicht. Also zumindest können wir nicht 100% sicherstellen, dass unsere Entscheidungen auf fundierten Daten und Analysen basieren und alles, was wir tun optimal genutzt ist. 
 
Dafür ist das Business Umfeld viel zu agil, volatil und flexibel geworden. Mit allen Vor- und Nachteilen. Wir haben auch schon darüber gesprochen, dass ein beachtlicher Teil unseres Wissens und damit unserer Entscheidungen aus dem unwillkürlichen Gedächtnisspeicher heraus passieren.
 
Wir greifen viel häufiger, als wir annehmen, auf bewährte, „automatisierte“, Entscheidungen zurück. Studien zeigen, dass durchschnittlich 70% unserer Gedanken identisch mit denen am Vortag sind und über 90% unserer Entscheidungen unbewusst getroffen werden. * 
 
Zum Thema Produktivität gibt es dennoch schöne Tipps, die ich gerne weitergeben möchte:
 
  • Setze Dir einen – wirklich! – klaren Fokus mit maximal 3 Prioritäten. Damit kannst du auch spontan aufkommende To-Do’s schnell und einfach einordnen mit der Frage „Zahlt das auf das Konto meiner Priorität 1, 2 oder 3 ein?“ Wenn nein, bekommt es keinen Raum.
  • Verplane nie 100% deiner Zeit – denn die hast du nicht. Maximal 60% planen, den Rest für kreative Räume oder zum Reagieren auf wichtige Dinge, freilassen.
  • Schaffe Klarheit: Erzähle anderen von Deinen Prioritäten, frage immer nach dem Ziel des Meetings, kenne Deine Verantwortung – und ihre Grenzen.
  • Kommuniziere – frage nach Hilfe, teile Erfolge und Misserfolge, lerne Nein zu sagen (wohl das wichtigste und schwierigste).
  • Setze Dir kleine, gut erreichbare Schritte, um Deine Ziele zu erreichen. So wirst Du nicht nur produktiver, weil Du gleich weißt, was zu tun ist (Entscheidungen benötigen viele Ressourcen), sondern baust Deine persönliche Verbindlichkeit zu dir selbst auf.
* Wood/ Jeffrey/ Kashy (2002), Zaltmann (2003)
 
CM: Das sind gute Tipps. Welche praktischen Handlungsempfehlungen würdest Du gerne noch mit Digital Marketing Manager:innen und Führungskräfte teilen, die in der sich schnell verändernden digitalen Landschaft arbeiten und leben?
 
SB: Die folgenden Selbstbefragungen können dabei hilfreich sein:
 
  • Nimm Dir Raum für Reflexion und Austausch – mit Dir selbst und in Deinem Team.
  • Lerne Deinen Körper und Deinen Atem kennen und die Möglichkeiten, die Du damit hast, Dich zu beruhigen, zu motivieren, zu pushen.
  • Sprich positiv mit Dir und anderen. Sprache schafft Realität und leider fokussieren wir uns häufig nur auf die Probleme statt auf die Möglichkeiten. Sei „Hart zur Sache – weich zum Menschen.“
  • Lerne Deine Werte und Bedürfnisse kennen und bringe diese aktiv in die Gespräche und Lösungsfindung mit anderen ein.
  • Hör auf, für jedes an Dich kommunizierte Problem sofort eine Lösung finden zu müssen. Das ist nicht Teil deiner Jobbeschreibung – und nimmt Deinem Team zudem Verantwortung weg. 

CM: Das ist klasse. Sabina, ich möchte Dir persönlich für dieses informative und inspirierende Interview danken. Deine Einblicke in die Welt des systemischen Coachings waren sehr wertvoll und helfen, das Thema besser zu verstehen. Es hat mich sehr gefreut, dass ich von Dir lernen durfte.

Claudio Marseglia

Claudio ist der Gründer von The Wachstum, das er als Nebenprojekt ins Leben gerufen hat. Hauptberuflich arbeitet er als Performance Marketing Manager bei Allane SE für die Marken Sixt Neuwagen und Autohaus24. Zuvor betreute er als Account Head bei der Agentur Publicis Media GmbH Kunden aus der Automobilbranche. Seinen Master in International Management hat er 2019 am King's College London abgeschlossen. Er liebt Verantwortung und managt aktuell Marketingbudgets in Millionenhöhe.

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